Richtlinie des BMF vom 31.03.2023, 2023-0.039.376
8 Rückstellungen (§§ 9 und 14 EStG 1988)

8.2 Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten

8.2.1 Wesen der Verbindlichkeitsrückstellungen

3313Bei den Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten muss eine Verpflichtung gegenüber Dritten gegeben sein. Verbindlichkeitsrückstellungen sind daher Rückstellungen, die gebildet werden auf Grund

  • privatrechtlicher Verpflichtungen auf vertraglicher oder deliktischer Grundlage (zB Rechts- und Beratungskosten, Pfandverbindlichkeiten, drohende Inanspruchnahme aus Bürgschaften, vertraglich vereinbarte Miet- oder Pachterneuerungskosten, Gewährleistungsansprüche),

  • öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen (Gesetz, Verordnung, Bescheid - zB Rückstellung für Umzugsräumungskosten, Baustellenräumungskosten - VwGH 25.2.1954, 2959/51, sonstige Entfernungs- und Entsorgungspflichten oder Berücksichtigung der Differenzbeträge iRd Feststellung der Kostenbasis für die nächsten Entgeltsperioden nach § 50 ElWOG 2010) sowie

  • wirtschaftlicher Verpflichtungen (zB Rückstellungen für nicht einklagbare Kulanzfälle, für freiwillig gewährte zusätzliche Arbeitsentgelte).

Gemeinsames Merkmal aller Verpflichtungsarten ist, dass gegenüber Dritten eine Leistungsverpflichtung besteht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Vermögensabfluss in der Zukunft führt. Die wirtschaftliche Verursachung der Verpflichtung muss im Abschlussjahr gelegen sein (vgl. VwGH 30.10.2003, 99/15/0261). Eine Verbindlichkeitsrückstellung darf nicht gebildet werden, wenn sich die ungewisse Verpflichtung auf aktivierungspflichtige Aufwendungen bezieht; künftige Abschreibungen dürfen nicht im Wege einer Rückstellung vorweggenommen werden (VwGH 21.10.1986, 86/14/0021; VwGH 26.5.2004, 99/14/0261).

Im Bereich von Abfertigungen, Pensionen und Jubiläumsgeldern ist eine steuerwirksame Rückstellungsbildung ausschließlich nach Maßgabe des § 14 EStG 1988 zulässig (siehe dazu Rz 3330 ff).

3314Eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung kann nur Gegenstand einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten sein, wenn die Verpflichtung nach ihrem Inhalt und insbesondere ihrem Entstehungszeitpunkt hinreichend konkretisiert ist. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Verpflichtung unmittelbar auf dem Gesetz oder auf einem besonderen Verwaltungsakt beruht und wenn an die Verletzung der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung Sanktionen geknüpft sind. Ob die zuständige Behörde bereits ein Verfahren auf Geltendmachung der öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht in die Wege geleitet hat, ist hingegen nicht entscheidend. Daher ist auch ein behördlicher Auftrag bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass die sachverhaltsmäßigen Voraussetzungen für die Geltendmachung der Pflicht der Behörde bekannt sind oder mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannt werden (VwGH 10.10.1996, 94/15/0089).

8.2.2 Einschränkung auf Einzelrückstellungen

3315Die Bildung von Verbindlichkeitsrückstellungen ist gemäß § 9 Abs. 3 EStG 1988 nur zulässig, wenn konkrete Umstände nachgewiesen werden können, nach denen im jeweiligen Einzelfall mit dem Vorliegen oder dem Entstehen einer Verbindlichkeit (oder eines Verlustes, Rz 3320) ernsthaft zu rechnen ist.

Für Wirtschaftsjahre, die vor dem 1.1.2021 beginnen, gilt:

Unzulässig ist aufgrund von § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF vor COVID-19-StMG die Bildung von Pauschalrückstellungen (siehe dazu näher Rz 3319). Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten dürfen daher nur gebildet werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Es müssen konkrete Umstände nachgewiesen werden können (dh. Nachweis darüber, dass ein "Schaden" bis zum Bilanzstichtag tatsächlich entstanden ist; keine bloße Vermutung),

  • nach denen im jeweiligen Einzelfall,

  • mit dem Vorliegen oder dem Entstehen einer Verbindlichkeit (eines Verlustes) ernsthaft zu rechnen ist.

Die pauschale Berechnung gruppenweiser zusammengefasster Einzelrückstellungen nach einem einheitlichen Satz ist in solchen Fällen zulässig (pauschal berechnete steuerlich zulässige Einzelrückstellung, siehe Rz 3319 Beispiel 2).

Für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2020 beginnen, gilt:

Die Bildung von Verbindlichkeitsrückstellungen (nicht hingegen Drohverlustrückstellungen, siehe Rz 3320) ist gemäß § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF COVID-19-StMG unter den Voraussetzungen des § 201 Abs. 2 Z 7 UGB idF BGBl. I Nr. 22/2015 jedoch auch pauschal möglich. Die Zulässigkeit der Bildung pauschaler Rückstellungen ist an deren unternehmensrechtliche Zulässigkeit geknüpft: Gemäß § 201 Abs. 2 Z 7 UGB muss die Bestimmung eines Wertes, die nur auf Basis von Schätzungen möglich ist, auf einer umsichtigen Beurteilung beruhen. Liegen statistisch ermittelbare Erfahrungswerte aus gleichgelagerten Sachverhalten vor, sind diese zu berücksichtigen. Der pauschale Prozentsatz ist kaufmännisch auf zwei Nachkommastellen zu runden. Verpflichtungen, für die bereits im Wege einer Einzelrückstellung vorgesorgt wurde, sind keiner pauschalen Rückstellungsbildung zugänglich.

Im Rahmen der Gewinnermittlung gemäß § 5 Abs. 1 EStG 1988 besteht im Falle der unternehmensrechtlichen Bildung pauschaler Rückstellungen aufgrund der Maßgeblichkeit eine Pflicht, die pauschale Rückstellungsbildung auch für steuerliche Zwecke vorzunehmen; im Rahmen der Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 1 EStG 1988 besteht hingegen ein Wahlrecht zur Bildung pauschaler Rückstellungen nach (abstrakter) Maßgabe der unternehmensrechtlichen Voraussetzungen des § 201 Abs. 2 Z 7 UGB.

Stimmt das Wirtschaftsjahr mit dem Kalenderjahr überein, kann die Bildung pauschaler Rückstellungen erstmals zum Bilanzstichtag 31.12.2021 erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass auch "Altrückstellungen" einer pauschalen Rückstellungsbildung zugänglich sind, dh. solche Rückstellungen, bei denen der Anlass für deren erstmalige Bildung in früheren Wirtschaftsjahren liegt ( § 124b Z 372 lit. b EStG 1988 idF AbgÄG 2022, BGBl. I Nr. 108/2022; dies gilt somit auch bei einem abweichenden Wirtschaftsjahr 2020/2021). Die steuerwirksame Nachholung dieser Rückstellungsbeträge hat über fünf Jahre verteilt zu erfolgen ( § 124b Z 372 lit. c EStG 1988). Zur rechnerischen Ermittlung des "Rückstellungsaltbestandes" siehe sinngemäß die Ausführungen in Rz 2373.

3316Die bloße Möglichkeit der Inanspruchnahme reicht für die Bildung einer Einzelrückstellung bzw. einer Pauschalrückstellung (aufgrund von § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF vor COVID-19-StMG, Rz 3315) nicht aus. Der Abgabepflichtige muss vielmehr entweder ausdrücklich mit einer Inanspruchnahme konfrontiert werden (zB schriftliche Inanspruchnahme einer Gewährleistungs- oder Garantieverpflichtung, behördlicher Auftrag zur Beseitigung eines Umweltschadens) oder selbst Schritte zur Sanierung eines eingetretenen Schadens gesetzt haben, die eine schriftliche Inanspruchnahme im Einzelfall erübrigen.

Beispiel 1:

Die schriftliche Inanspruchnahme einer Gewährleistungsverpflichtung durch den Berechtigten ist ein konkreter Umstand, nach dem im jeweiligen Einzelfall mit dem Entstehen einer Verbindlichkeit ernsthaft zu rechnen ist.

Beispiel 2:

Mit dem Nachweis eines innerbetrieblichen Beschlusses eine Rückholaktion durchzuführen, liegt ein konkreter Umstand vor, nach dem im jeweiligen Einzelfall mit dem Entstehen einer Verbindlichkeit ernsthaft zu rechnen ist.

3317Die Gründe für eine künftige Inanspruchnahme müssen gewichtiger sein als jene Gründe, die dagegen sprechen. Dies ist nach objektiv erkennbaren Tatsachen zu beurteilen.

3318Aus der Formulierung des § 9 Abs. 3 EStG 1988 ergibt sich, dass es sich bei diesen Voraussetzungen um Beurteilungskriterien handelt, die dem Grunde nach bereits zum Bilanzstichtag vorliegen müssen (keine Frage der Werterhellung). Es bestehen jedoch keine Bedenken, in jenen Fällen mit steuerlicher Wirksamkeit Rückstellungen zu bilden, in denen der Abgabepflichtige innerhalb von drei Monaten nach dem Bilanzstichtag, jedenfalls aber vor dem Bilanzerstellungstag, vom Vorliegen dieser Umstände zum Bilanzstichtag Kenntnis erlangt hat. Derjenige, der den Anspruch geltend macht, muss nachweislich bis zum Bilanzstichtag des Abgabepflichtigen Kenntnis von den Umständen erlangt haben, auf die er seinen Anspruch gründet.

Beispiel:

Ein Bauunternehmen erzielt 2014 einen garantierelevanten (von konkreten Gewährleistungsansprüchen unbelasteten) Umsatz von 10 Millionen Euro. Bilanzstichtag ist der 31.12.2014, Bilanzerstellungszeitpunkt der 10.5.2015. Bis 31.3.2015 sind Mängelrügen (Kenntnisstand 31.12.2014) mit einem Aufwandsvolumen von 300.000 Euro erhoben worden, bis 10.5.2015 weitere Mängelrügen mit einem Volumen von 100.000 Euro. Steuerlich ist zum Bilanzstichtag 31.12.2014 die Bildung von Einzelrückstellungen hinsichtlich eines Aufwandsvolumens von 300.000 Euro zulässig. Gegebenenfalls hat eine Abzinsung dieser Einzelrückstellungen zu erfolgen (siehe Rz 3309b).

8.2.3 Abgrenzung zur Pauschalrückstellung

3319Für Wirtschaftsjahre, die vor dem 1.1.2021 beginnen, gilt:

Steuerlich unzulässige Pauschalrückstellungen gemäß § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF vor COVID-19-StMG sind Rückstellungen, bei denen die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme durch Dritte gegeben ist, ohne dass bereits konkrete Umstände im jeweiligen Einzelfall eine Verbindlichkeit (Verpflichtung) erwarten lassen. Sie werden dem Grunde nach anhand von Erfahrungswerten angesetzt. Dazu zählen bestimmte Arten dem Grunde nach pauschal gebildeter Verbindlichkeitsrückstellungen (zB vom Umsatz abgeleitete Rückstellungen für Gewährleistungen, Garantiepflichten, Kulanzfälle, Produkthaftung, Umwelthaftung). Es handelt sich auch dann um eine unzulässige Pauschalrückstellung, wenn gleichartige Einzelrückstellungen dem Grunde nach gruppenweise aufgrund von Erfahrungswerten der Vergangenheit zusammengefasst werden (VwGH 20.10.2010, 2007/13/0085).

Beispiel 1:

Bei einem Autohändler gibt es nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre bei 10% der verkauften Neuwagen Inanspruchnahmen aus der Gewährleistung. Dies berechtigt den Autohändler nicht zur steuerwirksamen Bildung einer Rückstellung für Gewährleistungen (steuerlich unzulässige Pauschalrückstellung dem Grunde nach).

Beispiel 2:

Ein bestimmtes Modell eines Autoherstellers ist von einem Serienmangel betroffen. Da ein Teil dieser Mängel bereits geltend gemacht wurde, wird in den Medien eine Rückholaktion bekannt gegeben. In diesem Fall kann eine Rückstellung nicht nur für die Mängel, die bereits geltend gemacht wurden, sondern für alle zu erwartenden Ansprüche gebildet werden (pauschal berechnete steuerliche zulässige Einzelrückstellung).

Für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2020 beginnen, gilt:

Die Bildung von Verbindlichkeitsrückstellungen ist nicht mehr nur dann möglich, wenn im jeweiligen Einzelfall mit dem Vorliegen oder dem Entstehen einer Verbindlichkeit ernsthaft zu rechnen ist. Die Bildung von Verbindlichkeitsrückstellungen kann gemäß § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF COVID-19-StMG nach den Voraussetzungen des § 201 Abs. 2 Z 7 UGB auch pauschal erfolgen (siehe Rz 3315). Danach muss der Ansatz von Pauschalrückstellungen auf einer umsichtigen Beurteilung (Schätzung) beruhen; liegen statistisch ermittelbare Erfahrungswerte aus gleichgelagerten Sachverhalten vor, sind diese zu berücksichtigen.

Beispiel:

Der bilanzierende Einzelunternehmer A ( § 5 Abs. 1 EStG 1988; Bilanzstichtag 31.12.) ist seit vielen Jahren in der Massenproduktion von Dachziegeln tätig. Aufgrund von statistischem Datenmaterial, das auf Erfahrungswerten der Vergangenheit beruht, kann A davon ausgehen, dass rd. 2% der von ihm im Wirtschaftsjahr X1 produzierten und veräußerten Dachziegel mangelhaft sind und dafür auch in diesem Geschäftsjahr erneut mit der Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen durch seine Kunden von insgesamt 100.000 zu rechnen ist. A möchte dafür im Wege einer Pauschalrückstellung sowohl unternehmens- als auch steuerrechtlich vorsorgen. Gemäß § 201 Abs. 2 Z 7 UGB iVm § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF COVID-19-StMG sind dabei die ihm vorliegenden Erfahrungswerte der Vergangenheit zu berücksichtigen. A bildet unter Heranziehung dieser Erfahrungswerte zum 31.12.X1 für die zu erwartenden Garantiefälle pauschal - bezogen auf alle voraussichtlich mangelhaften Produkte - eine Rückstellung auch für steuerliche Zwecke.

8.3 Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften

8.3.1 Wesen der Drohverlustrückstellungen

3320Übersteigt am Bilanzstichtag der Wert der Leistungsverpflichtung aus einem Vertragsverhältnis den Wert der Gegenleistung, droht also aus dem Geschäft ein Verlust, so ist dieser im Wege einer Rückstellung jener Periode zuzuweisen, in welcher sich die Unausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung einstellt (VwGH 15.7.1998, 97/13/0190; 27.4.2020, Ra 2020/15/0014; 7.4.2022, Ro 2021/13/0009). Für die Beurteilung, ob eine Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in der Bilanz anzusetzen ist, sind jene Verhältnisse maßgeblich, die am Bilanzstichtag bestanden haben (vgl. VwGH 16.5.2007, 2006/14/0019; 27.4.2020, Ra 2020/15/0014).

Voraussetzung einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften ist, dass der Vertrag bereits abgeschlossen oder zumindest ein bindendes Vertragsangebot vom Rückstellungsbildenden gestellt worden ist. Für die Frage, ob ein Verlust "droht", sind die allgemeinen Grundsätze der Rückstellungsbildung heranzuziehen. Die Grundsätze für die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten gelten auch für Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften; allerdings können Verbindlichkeitsrückstellungen aufgrund von § 9 Abs. 3 EStG 1988 idF COVID-19-StMG pauschal gebildet werden (siehe Rz 3315 sowie 3319), während für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften unverändert nur die Bildung von Einzelrückstellungen zulässig ist.

Auch die Grundsätze für die Bewertung von Rückstellungen gelten für Verbindlichkeitsrückstellungen und Drohverlustrückstellungen gleichermaßen: § 9 Abs. 5 EStG 1988 sieht den Ansatz von Rückstellungen mit dem Teilwert (bzw. dem mit 3,5% abgezinsten Teilwert) vor. Der Teilwert ist ein Bewertungsmaßstab auf Vollkostenbasis. Folglich sind (Droh)verlustrückstellungen wie Verbindlichkeitsrückstellungen steuerlich auf Vollkostenbasis zu bewerten.

8.3.2 Grundsatz der Einzelbewertung und verknüpfte Geschäfte

3321Aus dem Grundsatz der Einzelbewertung ergibt sich die Verpflichtung, jedes einzelne schwebende Geschäft für sich daraufhin zu prüfen, ob daraus ein Verlust droht. Eine Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften ist nur dann anzuerkennen, wenn die dem Unternehmen zufließenden wirtschaftlichen Vorteile hinter den aus dem Vertrag erfließenden Verpflichtungen zurückbleiben; diese Verhältnisse bedürfen der konkreten Feststellung (VwGH 17.3.1994, 91/14/0001).

3322Es ist keine Saldierung mit Gewinn bringenden gleichartigen schwebenden Geschäften vorzunehmen. Erfolgsmäßig miteinander verknüpfte Geschäfte sind aber als Einheit zu bewerten. Mehrere Verträge sind somit dann vom Saldierungsbereich umfasst, wenn ein Geschäft das andere ursächlich bedingt, dh. wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen den Geschäften besteht. Werden beispielsweise verlustbringende Geschäfte mit einer Firma in Kauf genommen, um andere Gewinn abwerfende Geschäfte mit dieser Firma nicht zu gefährden, ist eine Saldierung vorzunehmen.

Beispiel:

Mietet ein Apotheker Ordinationsräume, um sie einem Arzt verbilligt weiter zu vermieten, dann kann für den Mietverlust keine Rückstellung gebildet werden, soweit nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Fehlbetrag durch andere mit dem Leistungsaustausch zusammenhängende Erträge (Einkäufe der Patienten des Arztes) auszugleichen ist.

3322aEine Qualifizierung mehrerer Rechtsgeschäfte als einheitliches Rechtsgeschäft ist jedenfalls dann geboten, wenn ein unmittelbarer zeitlicher (und betraglicher) Zusammenhang zwischen den einzelnen Rechtsgeschäften besteht, sie in unmittelbarem Zusammenhang zueinander bereits im Vorhinein vereinbart wurden und somit hinsichtlich ihrer späteren Abwicklung keine weiteren Dispositionen möglich waren (vgl. VwGH 19.10.2016, Ro 2014/15/0014; 27.4.2020, Ra 2020/15/0014). Einheitlich zu beurteilen sind insbesondere jene Geschäfte, die unmittelbar aufeinander bezogen abgeschlossen wurden (vgl. VwGH 27.4.2020, Ra 2020/15/0014). Im Falle einer Zinsswap-Vereinbarung zur Absicherung gegen das Risiko einer Zinssatzänderung (Tausch von variabler Verzinsung gegen fixe Verzinsung) als Maßnahme der Planungssicherheit ist aufgrund des Zusammenhangs zwischen dem Grundgeschäft (Kreditvertrag) und dem Sicherungsgeschäft (Zinsswap-Vereinbarung) für die Frage der Bildung einer Drohverlustrückstellung bei wirtschaftlicher Betrachtung von einem einheitlichen Geschäft auszugehen (weiter Saldierungsbereich; vgl. VwGH 27.4.2020, Ra 2020/15/0014). Folglich kann nicht schon deshalb eine Drohverlustrückstellung gebildet werden, weil aufgrund des Absinkens des marktüblichen Zinsniveaus der fixe Zinssatz über dem variablen Zinssatz liegt und ohne die Zinsswap-Vereinbarung lediglich der niedrigere variable Marktzins zu entrichten gewesen wäre.

8.3.3 Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Absatzgeschäften

3323Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Absatzgeschäften sind zu bilden, wenn der Wert der Leistungsverpflichtung (eigene Anschaffungs- oder Herstellungskosten) höher ist als der Wert des Entgeltanspruches. Bei zu erwartendem Verkauf über Buchwert - aber unter Verkehrswert - darf keine Rückstellung für entgehenden Gewinn gebildet werden. Gegenüberzustellen sind der Wert (in der Regel Nennwert, unter Umständen auch Teilwert, wenn zweifelhaft) der Forderung auf das Entgelt einerseits und andererseits die Vollkosten (Anschaffungs- oder Herstellungskosten).

Beispiel:

Der Ölgroßhändler verkauft an die Raffinerie Öl, das er noch nicht beschafft hat, zum Preis von 100 Euro je Barrel. Wenn die bereits zum Preis von 100 Euro je Barrel verkaufte Ware nun um 110 Euro je Barrel beschafft werden muss, dann ist in Höhe der Differenz von 10 Euro je Barrel vom Ölgroßhändler eine Rückstellung zu bilden.

8.3.4 Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Beschaffungsgeschäften

3324Bei schwebenden Beschaffungsgeschäften liegt ein drohender Verlust vor, wenn der Teilwert der angeschafften, aber noch nicht gelieferten Wirtschaftsgüter am Bilanzstichtag niedriger ist als die Kaufpreisschuld. Es handelt sich daher um eine Art vorweggenommene Teilwertabschreibung. Bei einer Leistungsverpflichtung ergibt sich der rückstellungsfähige Verlust aus der Differenz der Leistungsverpflichtung (Absatzgeschäft) und dem Beschaffungsgeschäft. Da die Bewertung von Handelswaren sowohl anschaffungs- als auch absatzorientiert ist, ist auch bei der Rückstellungsbildung für Beschaffungsgeschäfte von Handelswaren darauf Bedacht zu nehmen. Sinken daher die Wiederbeschaffungskosten für die betreffenden Waren, ist aber mit Sicherheit davon auszugehen, dass die Absatzpreise kostendeckend sind, so ist keine Rückstellung zu bilden.

Beispiel:

Ein Ölgroßhändler kauft Öl vom Produzenten zu einem Preis von 100 Euro je Barrel; das Öl ist am Bilanzstichtag noch nicht geliefert. Der Wiederbeschaffungspreis (Weltmarktpreis) für Öl sinkt zum Bilanzstichtag unter den vereinbarten Preis von 100 Euro je Barrel. Wenn auf Grund des gesunkenen Weltmarktpreises der Absatzpreis in Höhe von 80 Euro je Barrel nicht mehr kostendeckend ist, dann ist eine Rückstellung von 20 Euro je Barrel zu bilden.

8.3.5 Rückstellungen für drohende Verluste aus absatzorientierten Dauerrechtsverhältnissen

3325Rückstellungen für drohende Verluste aus absatzorientierten Dauerrechtsverhältnissen sind zu bilden, wenn der Anspruch auf das (Nutzungs-)Entgelt geringer zu bewerten ist als die Aufwendungen (Vollkosten) im Zusammenhang mit der Erfüllung der Dauerschuld. Es ist eine Rückstellung für drohende Verluste zB aus Mietverträgen zu bilden, wenn die Aufwendungen des Vermieters in der vereinbarten Miete keine Deckung finden. Unmaßgeblich bleibt, ob das Rechtsverhältnis über seine Gesamtlaufzeit ausgeglichen ist (Ganzheitsbetrachtung). Die verbleibende Laufzeit des Schuldverhältnisses muss einen Verlust erwarten lassen (Restwertbetrachtung).

8.3.6 Rückstellungen für drohende Verluste aus beschaffungsorientierten Dauerrechtsverhältnissen

3326Bei beschaffungsorientierten Dauerrechtsverhältnissen (wie zB bei beschaffungsseitigen Mietverträgen) ist der Wert der Mietzinszahlung dem Wert des Sachleistungsanspruches gegenüberzustellen, den die Mietsache zum Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens leistet. Rückstellungen für drohende Verluste aus beschaffungsorientierten Dauerrechtsverhältnissen sind jedoch idR unzulässig, weil der Beitrag des Dauerrechtsverhältnisses (Wert des Sachleistungsanspruches) zum Unternehmenserfolg nicht eindeutig quantifizierbar und bewertbar ist (vgl. VwGH 17.3.1994, 91/14/0001; VwGH 7.4.2022, Ro 2021/13/0009). Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn der Sach- oder Dienstleistungsanspruch des Unternehmers für den Betrieb keinen Wert mehr hat ("Fehlmaßnahme", vgl. VwGH 7.4.2022, Ro 2021/13/0009 unter Verweis auf BFH 23.6.1997, GrS 2/93, "Apothekerfall"). Dies ist der Fall, wenn eine Mietsache im Betrieb nicht mehr genutzt werden kann, dh. diese weder vom Unternehmen selbst genutzt noch untervermietet werden kann. Diesfalls ist für die Verpflichtung zur Zahlung des Mietzinses eine Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden (vgl. VwGH 7.4.2022, Ro 2021/13/0009 zu bereits geschlossenen Filialen im Lebensmitteleinzelhandel). Wird eine Mietsache hingegen nach wie vor im Betrieb genutzt, ist eine Reduktion des Wertes des Sachleistungsanspruchs nicht erkennbar, weshalb die Bildung einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften im Hinblick auf die weiterhin genutzte Mietsache unzulässig ist (vgl. VwGH 7.4.2022, Ro 2021/13/0009 zu vom Unternehmen nach wie vor betriebenen "verlustträchtigen" Filialen im Lebensmitteleinzelhandel). Im Hinblick auf die weiterhin genutzten Filialen gilt dies auch dann, wenn bereits die variablen Kosten die Erlöse übersteigen (negativer Deckungsbeitrag).

8.4 Aufwandsrückstellungen

8.4.1 Wesen der Aufwandsrückstellungen

3327Bei Aufwandsrückstellungen ist kein Verpflichtungscharakter gegenüber Dritten gegeben (zB Rückstellungen für unterlassene Instandsetzungen). Sie sind von der Aufzählung in § 9 EStG 1988 nicht erfasst, weshalb ihre Bildung und Auflösung steuerlich unwirksam ist.

8.4.2 Beispiele für Aufwandsrückstellungen

3328Zu den Aufwandsrückstellungen zählen Rückstellungen für

  • unterlassene Instandhaltung,

  • Entsorgungsmaßnahmen, sofern nicht Entsorgungspflicht gegeben ist, siehe ABC der Rückstellung

  • Aufräumungsarbeiten nach Katastrophenschäden,

  • freiwillige Rekultivierung,

  • unterlassenen Forschungs- und Reklameaufwand,

  • Substanzerhaltung bei steigenden Wiederbeschaffungskosten,

  • freiwillige Abraumbeseitigung,

  • Selbstversicherung bei nicht versicherten Schadensfällen.

8.4.3 Abgrenzung Aufwandsrückstellungen zur Rechnungsabgrenzung

3329Vorgänge des abgelaufenen Wirtschaftsjahres, die nach Art einer Rechnungsabgrenzung sowohl zu aktiv- als auch zu passivseitigen Positionen führen können (zB die Behandlung des Abraumes im Bergbau und für rückständige Urlaubsansprüche) sind jedenfalls zu passivieren.


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Zusatzinformationen
Gültig ab:
31.03.2023
Betroffene Normen:
§ 9 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 14 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 9 Abs. 5 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 9 Abs. 3 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 50 ElWOG 2010, Elektrizitätswirtschafts- und -organisationsgesetz 2010, BGBl. I Nr. 110/2010
§ 9 Abs. 3 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 201 Abs. 2 Z 7 UGB, Unternehmensgesetzbuch, dRGBl. S 219/1897
§ 5 Abs. 1 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 4 Abs. 1 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 124b Z 372 lit. b EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 124b Z 372 lit. c EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
Schlagworte:
Abfertigungsrückstellung - Pensionsrückstellung - Jubiläumsgeldrückstellung - Anschaffungskosten - Nutzungsentgelt.
Stammfassung:
06 0104/9-IV/6/00

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at

Fundstelle(n):
LAAAA-76448